Liebeswirren im Flughafenhotel
Markus Keller macht aus dem Film «Jet Lag» ein ebenso berührendes wie unterhaltsames Kammerspiel
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Charles Linsmayer Publiziert am 8. Dezember 2025 um 08:00 Uhr |
«Das ist der Jet lag, und mein Blutbild ist sehr niedrig», erklärt im Airport-Hotel von Roissy ein Mann einer Frau, die ihn im Badezimmer am Boden liegend aufgefunden hat. Es ist kurz vor Weihnachten, Winterstürme und Schnee haben den Flugbetrieb lahmgelegt, und der Mann hat eine zufällige Reisende, der er mal kurz sein Handy geliehen hatte, weil das ihre ins Klo gefallen war, auf sein Zimmer genommen, bis die Flüge wieder stattfinden. Soweit stimmen der Film «Décalage horaire», in deutscher Fassung «Jet Lag», den das Ehepaar Danièle und Richard Thompson 2002 mit Juliette Binoche und Jean Reno gedreht hat, mit dem Theaterstück «Duftwolken» überein, das Markus Keller am Samstag im Theater an der Effingerstrasse uraufgeführt hat. Und bevor man die Bühnenfassung gesehen hat, könnte man leicht auf den Gedanken kommen, ohne den verführerischen Charme von Juliette Binoche und das turbulente Faszinosum eines internationalen Flughafens werde da höchstens ein schwacher Abklatsch des Originals zu erleben sein.
Ein ganz neues Stück
Aber «Jet Lag» ist nicht der erste Film, aus dem Markus Keller ein Bühnenstück gemacht hat, und die Inszenierung, mit der er das Premierenpublikum zwei Stunden ebenso berührte wie zum Lachen brachte, ist auch gar nicht die Theaterversion des Films, sondern ein ganz neues, anderes Stück. Indem er das Gewicht von den Jetset-Trivialitäten des Flughafens und vom Glamour des Filmstars ins Psychologische verlegt, eine zusätzliche Figur dazu erfindet und den Protagonisten nicht nur fein austarierte, oftmals ihre innersten Gefühle offenlegende, aber immer pfiffige, pointierte Dialoge in den Mund legt, macht er aus einem Coup de foudre ein Drama, in dem zwei Menschen an einer Schnittstelle ihrer Biographie zu einem überraschenden Neuanfang finden. Dass er das gleiche auch noch den zwei versetzten Expartnern angedeihen lässt, ist vielleicht etwas übertrieben, ermöglicht es aber durch die Erfindung zusätzlicher komödiantischer Pointen den Fehler zu vermeiden, den das deutsche Filmlexikon der Vorlage angekreidet hat, dass nämlich «wirklich überzeugende Dialoge eher sporadisch aufscheinen.»
Zwei, denen es schlecht geht
«Mir läuft gerade alles weg: das Leben, die Freude am Kochen, die Gäste, die Kritiker, die Sous-Chefs, die Freundin» sagt der New Yorker Starkoch Philippe Delaunay in einem Moment, als aus dem wunderbaren Zusammentreffen mit der Pariser Parfümverkäuferin Claire Moreau doch wieder nichts werden könnte, zum Rivalen Serge Garnier, der von der panischen Angst, seine Frau zu verlieren, getrieben ist. So dass Claire durchaus recht hat, als sie konstatiert, sie «laufe vor einem Übergeschnappten davon.» Einem Übergeschnappten allerdings, über den sie in einem der persönlichsten Momente mit Philippe zu Protokoll gibt, sie liebe ihn zwar, tue aber «schon ziemlich lange so, als ob ich einen Orgasmus hätte.» Es ist also nicht der Jet lag, der Delaunay in Ohnmacht fallen lässt, sondern fast so etwas wie ein Burnout, und weil das Theaterstück dessen Hintergründe plausibel vorführt und auch zeigt, wie verloren sich Claire Moreau in ihrer verkrachten Ehe vorkommt, entsteht ein Kammerspiel, für das es nicht ein Nachteil, sondern ein Vorteil ist, dass es sich nicht im Gedränge eines Grossflughafens, sondern in der Enge eines kleinen Theaters abspielt. Und das Schöne, das Überraschende daran ist, dass die beiden Protagonisten, die, wie Claire einmal sagt, nichts Gemeinsames haben, «als dass es uns beiden schlecht geht», von der Angst vor der Einsamkeit und der Frustration über eine unglückliche Partnerschaft am Ende eben doch zusammengetrieben werden.
Rundum adäquate Besetzung
Dass dies überzeugend gelingt, dafür braucht es allerdings eine Besetzung, die den komplexen Vorgaben gewachsen ist. So ist Judith Seither eine Claire, die nebst den witzig ausgespielten Marotten der Kosmetikerin – ohne Schminke fühle sie sich nackt, gibt sie zu – sowohl die trotzig zur Selbständigkeit erwachende Ehefrau als auch die sentimentale Geliebte zu mimen weiss und zwischen Lachen und Heulen doch etwas wie Sex Appeal verströmt. Ihrer Exaltiertheit stellt Christoph Keller die Verschlossenheit eines eigensinnigen Dickkopfs gegenüber, der sich erst ganz allmählich erweichen lässt und die Avancen der jungen Frau von sich abprallen lässt, solange es nur irgend geht, um dann doch mit fliegenden Fahnen zur ihr hinüberzuwechseln. Karo Guthke, die komödiantische Glanznummer des Abends, macht als amerikanische Geliebte und Geschäftspartnerin von Philippe mit ihrem Mischmasch aus Englisch, Deutsch und Französisch sonnenklar, warum das mit dem Starkoch und der auf das Vegane eingeschworenen Partnerin keine Zukunft hat. Etwas gewöhnungsbedürftig ist es dann allerdings, dass sie am Ende die Zuneigung des Eisenbahners Serge findet, mit dessen Zeichnung als zwischen Verliebtheit und Wutanfällen hin und her gerissenes, im Grunde aber gutmütiges Wesen Fabian Guggisberg es der in den Starkoch aus Übersee frisch verliebten Ehefrau Claire bis fast zum Schluss schwer macht, sich wirklich von ihm zu trennen. Das Rollenspiel in den zwei von Peter Aeschbacher mit einfachen Mitteln evozierten Schauplätzen – einem Stück Abfertigungshalle des Flughafens und einem Hotelzimmer – nimmt nach der Pause spürbar Fahrt auf, Einfall folgt auf Einfall, Überraschung auf Überraschung, und der im Einzelnen kaum mehr verständliche fast schon absurd-komische Höhepunkt ist erreicht, wenn die beiden Paare sich gleichzeitig und wirr durcheinander ihre Liebe aufkündigen und sich ebenso exaltiert und befreit den jeweils anderen Partnern zuwenden. Ein lustiges Tohuwabohu, das am Premierenabend nahtlos in den rhythmischen Applaus des Publikums überging, das über den rundum geglückten Theaterabend ganz offenbar hell begeistert war.

Charles Linsmayer
Charles Linsmayer ist einer der profiliertesten Schweizer Literatur- und Theaterkritiker. Seit Jahrzehnten prägt er die kulturelle Landschaft mit präzisen Analysen, fundiertem Wissen und einer unverkennbaren Leidenschaft für Sprache und Bühne. Als Autor, Herausgeber und Vermittler öffnet er neue Perspektiven auf klassische wie zeitgenössische Werke und macht komplexe Zusammenhänge zugänglich. Mit seinem feinen Gespür für Dramaturgie und Kontext schafft Linsmayer Orientierung in einer vielfältigen Theaterwelt und inspiriert Publikum wie Fachwelt gleichermassen.
